Die Kamera von Sigmar Polke
Sie zieht in den 1970er Jahren unwiderstehlich ihre Kreise, wird vom Künstler selbst ausgelöst oder von den Kolleg*innen und Freund*innen bedient. Orte des Geschehens sind der Gaspelshof in Willich bei Düsseldorf, hier wohnte Sigmar Polke mit Gleichgesinnten, zugleich galt das Anwesen vielen als Satellit der Düsseldorfer Szene. Dazu kommen Zürich, der Wohnort von Katharina Steffen, seinerzeit Lebensgefährtin von Sigmar Polke, eine Stadt mit einer unwahrscheinlich lebendigen Undergroundszene, sowie Bern, Standort der wichtigen Galerie von Toni Gerber und des Kurators Harald Szeemann. Beispielhaft ist an den Fotografien von diesen Orten zu sehen, wie die weit verzweigten Verbindungen zwischen den Künstlern und ihrem Umfeld aufgebaut und versponnen wurden. Ähnlich wie in der westdeutschen Szene gab es auch in der Schweiz eine starke Aufbruchsstimmung, allen voran durch die Aktivitäten der feministischen Künstlerinnen der »Frauenrakete« in Zürich. Während in Düsseldorf die Künstlerszene stärker unter sich blieb, kam es in Zürich zu einer heterogenen Mischung aus Kulturschaffenden, Freigeistern, Studenten, Rockern, Hippies etc. Die Fotokamera von Sigmar Polke war bei all diesen Reisen, Ausstellungseröffnungen, den freundschaftlichen Aktivitäten und gemeinsamen Spielen stets dabei: Das Leben war eine Performance. Und immer wieder ging es Sigmar Polke wie den Kolleg*innen darum, die künstlerische Produktion und den künstlerischen Habitus neu zu (er-)finden. Die 1970er Jahre waren auch für Sigmar Polke von der Kritik an der bürgerlichen Ordnung geprägt, dem eine eigene Lebensführung entgegengesetzt wurde. Kunst, revolu- tionärer Zeitgeist und Alltag sollten möglichst so angelegt sein, dass sie sich gegenseitig durchdringen. Bice Curiger merkt dazu an: »Sigmar Polkes Kunstbegriff ist expansiv und den prallen Lebensbelangen zugeneigt, um mit Haut und Haar die neuen kollektiven Lebensformen (die ›richtigen im falschen Leben‹) zu erproben und sie auszukosten, um gleichwohl mit schelmischer Skepsis dem allzu Idealistischen und vor allem Ideologi-schen aller Art zu begegnen. In seiner Lebensart wie in der Kunst fand Sigmar Polke differenzierende Verarbeitungsinstrumente für die unmittelbare Auseinandersetzung mit dem, was altmodisch ›Weltgehalt‹ genannt wird.«
Das Buch veröffentlicht Beiträge einer Ringvorlesung des Faches Kunstgeschichte der Universität Siegen und dokumentiert die gleichnamige Ausstellung des Museums für Gegenwartskunst Siegen vom 14. November 2018 bis 10. März 2019.