Kurzgeschichten von
Cennet Alkan, Patricia Büttiker, Denise Buser, Marc Djizmedjian, Bianca Döring, Johanna Gerber, Bettina Grack, Friederike Gräff, Margarete Groschupf, Andreas Grosz, Wilfried Happel, Lioba Happel, Thomas Heimgartner, Harald Hetzel, Petra Hofmann, Signe Ibbeken, Sonja Sophie Kreis, Christoph Langemann, Severin Perrig, Doron Rabinovici, Guido Rademacher, Astrid Schleinitz, Sabine Schönfeldt, Monica Schwenk, Verena Stössinger, Andreas Vonmoos, Dieter Zwicky
Neulich erzählte mir jemand, er habe in einer Fußgängerzone einen Jungen gesehen, der ein holzgeschnitztes Steckenpferd ritt. Er habe sich fast die Augen gerieben: Der Junge ging mit einer Leidenschaft zu Werk, dass man sicher sein konnte, er meinte, auf einem richtigen Pferd zu sitzen. Insgesamt sah dieses Bild aber aus wie aus einer heilen Welt einer anderen Zeit herübergebeamt.
Stell ich mir mal vor, dieser Junge sei dann aus der mittelalterlichen Fachwerkzone hinaus in die Neustadt hinübergeritten, unterwegs auf die Fahrbahn geraten, gerade so zwischen den Autos hindurchgekommen und am Ende in seinem Zuhause in einer Neubausiedlung am Rande der Stadt abgestiegen. Er geht in den Fahrstuhl, fährt in sein Stockwerk, öffnet die Wohnungstür, lehnt das Steckenpferd im Flur an die Wand. Er wird vom Vater niedergemacht, weil er so lange fort war; schaut einer stummen Mutter ins Gesicht, die ihm gegenüber ein Wort über gar nichts verliert; setzt sich zu den anderen vor den Fernseher oder allein in sein Zimmer; isst nicht zu Abend; hat Probleme mit den Hausaufgaben, die er noch machen muss; ist in die Mathelehrerin verknallt, obwohl er eine Niete im Rechnen ist ?
Und reitet am nächsten Nachmittag erneut los.
Wer täuscht sich hier nun? Der Beobachter, der zufällig wieder vorbeikommt und über so viel heile Welt den Kopf schüttelt? Oder der Junge, der glaubt, mit seinem Fußgängerzonensteckenpferd in einer besseren Welt gelandet zu sein? Oder das Pferd, bildet sich das Steckenpferd vielleicht am Ende ein, ein richtiges Pferd zu sein?
Hier wären wir mitten in einer Kurzgeschichte. Sie könnte so enden: Irgendwann ist der Junge 18 Jahre alt geworden, ziemlich fertig mit den Nerven, will sich mal wieder einen kleinen Steckenpferd-Ritt in der Innenstadt genehmigen, dreht das Steckenpferd vor Tchibo um - da ist es ein Maschinengewehr. Und leider geht es nun los ? Und zwar genau in dem Moment, in dem sein Blick auf den Beobachter von damals fällt, der zufällig vorbeikommt und ausruft: »Seit Jahren das Gleiche!«
Die allgemein gerne als harmlos eingeschätzte Kurzgeschichtenschreiberei (ist sie nicht der Schreibenden Steckenpferd?) trägt in diesem Buch also fleißig das haarsträubende Unglück herbei; oder das haarsträubende Glück. Die Schreibweisen: von gleißend bis düster; von ironisch bis realistisch; von gewagt ungehabt bis gewagt gehabt; von leise unheimlich bis klar überschaut. Voller ursprünglichen Erzählvertrauens - dann wieder stark dem Erzählen entgegen gebürstet; mit einer gewissen schönen, in literarische Publikationen oft gar nicht erst hineingelassenen Naivität erzählt - dann wieder bewusst und kunstvoll gestaut. Verschiedenste Stimmen also darunter: junge; drauflos erzählende; versierte; literarisierte. Alle Geschichten öffnen irgendwann das Visier, und herausblitzen die furchtbaren Überraschungen, die einem das Dasein in der Welt so zu bieten hat. Das finde ich, gehört sich auch so, es ist das Wesen der Kurzgeschichte. Kurzgeschichten sind trojanische Steckenpferde.
Ich bin davon überzeugt: Auch wer nicht, niemals schreibt, trägt seine Kurzgeschichten in sich und erkennt sich und sie wieder in den hier vorgelegten.
Lioba Happel