Wer in den Lockdown-Wochen nach Ostern 2020 durch das weitgehend menschenleere Zürich ging, konnte fast jeden Tag eine neue Entdeckung machen: tanzende Skelette an Hauswänden und Mauern - gesprayt von Harald Naegeli. Hinter Rodins «Höllentor» am Kunsthaus blickte eines hervor, am Sockel des Waldmann-Denkmals schwang eines seine Sichel, an der Schifflände bewachte eines den vorschriftsmäßig leeren Restaurant-Tisch, auch am Eingang des Kantonsspitals wurde man von einem Sensenmann erwartet. Rund fünfzig Zeichnungen waren es schließlich, doch existierten die meisten nur kurz - oft waren sie schon binnen 24 Stunden wieder abgewaschen, ausgetilgt, zerstört - als könne man den Gedanken an den Tod nicht ertragen. Begonnen hatte alles viele Jahre zuvor: zum einen mit dem «Kölner Totentanz» von 1980/81, zum anderen 2004 mit dem Gesuch für ein offizielles Projekt in Naegelis Heimatstadt Zürich. Damals wandte er sich mit dem Wunsch an das Grossmünster, im Aufgang der Kirchtürme einen Totentanz zeichnen zu dürfen. Es gab eine Abstimmung in der Gemeinde, es gab Verhandlungen mit dem Kanton, und es gingen 14 Jahre eines behördlichen Hin und Her ins Land, bis man Naegeli bestimmte Stellen zum Besprayen zugestand - mit der Maßgabe, die Zeichnungen nach vier Jahren wieder zu entfernen. Im Herbst 2019 schuf Naegeli die ersten beiden Figuren, und da ihm der Genius der Freiheit die Hand führte, geriet er unversehens um ein paar Zentimeter über die erlaubte Fläche hinaus. Das Projekt wurde sistiert, doch Naegeli beschloss, sich seine Kunst nicht kommandieren zu lassen. So zog er wie vierzig Jahre zuvor wieder nächtens als Sprayer durch Zürich. Und merkwürdig: die Reaktionen waren teilweise so, als sei die Zeit stillgestanden: Da waren sie wieder - die Ressentiments, die in Naegelis Bildern nur Verunstaltungen erblickten, der starre Ordnungssinn, der es nicht ertrug, sich durch die Kunst hinterrücks entlarvt und überlistet zu sehen. Viele aber reagierten anders, hielten die kurzlebigen Zeichnungen auf Photos fest, posierten davor oder zeichneten daran weiter. Ihrem Verständnis nach war die Kunst hier nicht am falschen, sondern gerade am richtigen Ort: mitten unter den Menschen. Ob der eine oder die andere dabei auch an Rilke
dachte? «Der Tod ist groß./ Wir sind die Seinen / lachenden Munds./ Wenn wir uns mitten im Leben meinen, / wagt er zu weinen / mitten in uns.»