Der Literatur- und Musikwissenschaftler Sebastian Kiefer behauptet seit Jahren eine solitäre Stellung in der deutschsprachigen Publizistik: Er entwickelte eine eigene Kunst des minutiösen Lesens und versucht dabei zu zeigen, dass die Ansprüche an poetische Sprache und Erfahrung, wie sie Goethe, Hölderlin oder Eichendorff hegten, heute nur in avancierten Texten lebendig wiederholt oder neu formuliert werden können.
"Lesen" in Kiefers Sinn ist das Gegenteil des konventionellen "Interpretierens": Es geht nicht um das Extrahieren angeblicher dichterischer Aussagen - denn alles, was man über die Welt oder über sich selbst sagen kann, lässt sich auch ohne Kunst sagen. Genuin poetische Erfahrungen von Ich, Welt und Sprache können nur im Mit- und Gegeneinander verschiedener Arten von Gefühlen, Gedanken und Wahrnehmungen im praktischen Lesen gemacht werden. Lesen ist für Kiefer die Kunst, diese verschiedenen geistigen Aktivitäten zu verfeinern, beobachten und erleben zu können. Kenntnis der historischen Sprechweisen und Erkenntnisbegriffe ist dazu ebenso unerlässlich wie eine Verfeinerung der Aufmerksamkeit für das Spiel der Empfindungen und die Nuancen der sich zeigenden Phänomene. Die hierorts versammelten Aufsätze folgen Kiefers Lektürebewe- gungen in seinen zentralen Untersuchungen von Texten deutscher Klassiker bis zur Neoavantgarde (Reinhard Priessnitz, Ferdinand Schmatz, Ulrich Schlotmann u.a.). Hommagen von Autor*innen, deren ästhetische Positionen für Sebastian Kiefer Relevanz besitzen - zu einigen von ihnen hat er richtungsweisende Publikationen vorgelegt -, komplettieren den Band.